Rund 2,8 Millionen Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf. Etwa 3 Millionen Kinder in Deutschland wachsen bei einem suchtkranken Elternteil auf, die meisten bei Alkoholikern. Weitere drei Millionen Kinder leben mit einer psychisch kranken Mutter oder einem psychisch kranken Vater. Zwischen diesen drei Gruppen gibt es Überschneidungen. Familien mit Suchtkranken sind häufiger arm, psychisch kranke Eltern öfter suchtkrank.
Armut – die unsichtbarste Form von Gewalt
Armut geht, vor allem für die Kinder, mit einer Reihe von psychosozialen Folgen einher. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass man als Einwohner eines Industrielandes gar nicht wirklich arm sein könne, dass Armut etwas sei, das sich nur in der sogenannten „dritten Welt“ finden lässt. Dann wird Armut zu etwas, das nur in Relation existiert. Im Verhältnis zu einem Multimilliardär ist jeder von uns arm, doch das sagt nichts über die „Qualität“ dieser Armut aus. Deshalb brauchen wir andere Begriffe für diese Armut, um über sie und ihre Folgen zu sprechen.
Es werden drei Arten von Armut unterschieden: absolute, relative und gefühlte Armut. Bei diesen Definitionen hat man sich auf den Einkommensmangel und dessen Konsequenzen beschränkt. Es fällt sofort auf, dass die Kinderarmut noch nicht einmal eine Kategorie bildet, denn Kinder haben kein eigenes Einkommen! Hier liegt auch zugleich schon die Lösung, aber dazu später mehr.
Ich fasse die Definition des Kindernothilfswerk World Vision wie folgt zusammen: Die absolute Armut bezeichnet eine Existenznot, „ein Leben am äußersten Rand der Existenz“. Kennzeichnend dafür sind die mangelnden Ressourcen von lebenswichtigen Mitteln zur Befriedigung der Grundbedürfnisse (z.B. Essen, Trinken, Wohnen etc.). Ein ständiger Kampf ums Überleben findet statt. Die Grenze für die Bestimmung der absoluten Armut erfolgt auf der Basis eines durch die Weltbank festgelegten Indikators. Dieser liegt derzeit bei 1,25 US$ pro Tag, die die Menschen zur Verfügung haben. 1,2 Milliarden Menschen weltweit fallen in diese Kategorie.
In Wohlstandsgesellschaften spricht man von relativer Armut, die sich in einer sogenannten Unterschicht subsumiert. Diese Unterschicht zeichnet sich durch geringes Einkommen und wenig Aufstiegsmöglichkeiten aus. Die gesellschaftliche Teilhabe ist stark eingeschränkt, schlicht, weil es dafür an Geld fehlt. Die „gefühlte Armut“ spielt dabei ebenfalls eine Rolle. Wenn alle um mich herum mehr haben als ich oder ich nicht genug habe für das, was ich mir wünsche, bin ich nach meinem eigenen Empfinden arm.
Kinderarmut ist eine ganz spezielle Form von Armut und als solche sehr schmerzvoll für Kinderseelen. Sie ist untrennbar mit dem Einkommen der Eltern verbunden. Ihr wichtigstes Merkmal ist die Unfähigkeit der Kinder, sich selbst aus dieser Armut zu befreien. Sie sind ihr ausgeliefert, mit allen nur denkbaren negativen Folgen. Denn Armut wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus und kann zu einer Art Urtrauma werden. Auf das Selbstwertgefühl, auf die Beziehungen, den Bildungserfolg, die Gesundheit, die Berufswahl, die spätere Familiengründung. Kinder, die in Armut aufgewachsen sind, vergessen diese Erfahrung niemals, denn Entbehrung hat viele Gesichter. Sie kann sich in gebrauchten Kleidern ausdrücken, die aus der Kleiderkammer oder von Verwandten stammen, im permanent leeren Kühlschrank, durch fehlenden Urlaub und beengte Wohnverhältnisse. Diese Armut drückt sich auch durch die Unmöglichkeit zu reisen oder die nächste Klassenfahrt zu finanzieren aus, durch die Angst vor unbezahlten Rechnungen, die Furcht, dass eine neue Brille notwendig ist oder die alte kaputtgeht, die Waschmaschine, die defekt ist und nicht ersetzt werden kann. Alle diese Mankos führen in der Regel zu unzähligen inneren Demütigungen durch Vermieter, Arbeitgeber, Mitarbeiter beim Jobcenter, die ausgehalten werden müssen, weil tiefe materielle Machtverhältnisse dahinterstehen.
Dafür haben wir kein Geld
Ausreichende materielle Ressourcen sind eine entscheidende Voraussetzung für ein erfolgreiches Heranwachsen und Erwachsenwerden, das hat die breit angelegte AWO-ISS-Studie gezeigt. Dies beinhaltet die materielle Grundversorgung in Form von Wohnen, Kleiden, Ernähren, Bildung und Freizeitgestaltung. Treten in diesen Bereichen Mängel auf, kommt es zu Störungen der Identitätsentwicklung. Außerdem entwickeln betroffene Kinder die Tendenz, sich sozial zu isolieren. Diese Tendenz wird durch das gesellschaftliche Stigma noch verschärft. Viele von Armut betroffene Kinder nehmen diese auf sie gerichtete soziale Ausgrenzung wahr und kommen ihr zuvor, indem sie erst gar keine Kontaktversuche zu anderen Kindern machen, ein Verhalten, das oft ein ganzes Leben lang beibehalten wird, mit dramatischen Folgen für privates Glück wie Karriere.
Armut führt oft zu einer Verhärtung der innerfamiliären Beziehungen, zu einem Mehr an Disziplinierung statt zu einem Mehr an Liebe und oft, nicht immer, geht sie mit einer geringeren Bildung der Eltern einher, die gleichermaßen den Bildungshorizont der Kinder einengt. Bücher, Malsachen, ein Besuch im Konzert, im Museum – all das wird im Sinne von „Dafür haben wir kein Geld“ zu unerreichbarem Luxus. Das Familienleben findet hauptsächlich vor dem Fernseher statt. Dieses Klischee ergibt sich aus der Abschottung nach außen und dem Fehlen von Alternativen, weil alle Alternativen Geld kosten. Dazu kommt die Grausamkeit, mit der bestimmte Fernsehformate sich über eben dieses scheinbar stereotype Verhalten einkommensschwacher Familien lustig machen, verschlägt mir immer wieder den Atem.
Es ist eine etablierte Tatsache: Armut wirkt sich auf die Ernährung, die Schlafverhältnisse, die Gesundheitsversorgung, die motorische Entwicklung, die sprachlichen Fähigkeiten, die Art der Mediennutzung, das Risiko zur Suchtentwicklung und das Auftreten psychischer Krankheiten aus. In den allermeisten Fällen ist Armut allerdings der Auslöser, nicht die Folge dieser Phänomene. Die Menschen sind nicht arm, weil sie sich falsch verhalten. Sie verhalten sich so ungesund oder unvernünftig, weil sie arm sind. Hinzu kommt eine ganz besondere Form von Stigmatisierung. Armen Menschen wird per se unterstellt, sie seien schlechtere Eltern! Ein Blick auf die Studien zu Inobhutnahmen und Eingriffe durch das Jugendamt zeigt jedoch, dass Jugendämter deutlich schneller und heftiger eingreifen, wenn eine Familie von Hartz IV lebt, als wenn es sich um einen prügelnden Papa im Villenviertel mit Porsche vor der Tür handelt.
Zeit zum Handeln!
Diese Armut, die so viele Kinder ein Leben lang verfolgt, ist keine Naturgewalt. Sie ist menschengemacht und damit keine Notwendigkeit! Wir könnten sie beseitigen, von heute auf morgen, wenn wir wirklich wollten, und nicht ein einziger Erwachsener hätte dadurch weniger Mittel für sich selbst zur Verfügung. In meinen Augen ist diese Unterlassung die schlimmste Form von Gewalt, die existiert, denn sie ist zynisch bis ins Mark.
Wenn es ein Umfeld gibt, das für die belastenden Faktoren einen Ausgleich schafft, dann können Kinder auch unter schwierigen Bedingungen seelisch gesund aufwachsen. Wir dürfen dabei jedoch nicht der Illusion unterliegen, dass es ausreicht, nach Feierabend ein bisschen soziales Engagement zu zeigen oder das gebrauchte Spielzeug unserer Kinder in einem Problemviertel abzugeben. Die Lösung für Armut ist Bildung, doch diese ist – besonders in Deutschland – einkommensabhängig. Es ist ein Teufelskreis, den wir dringend verlassen müssen und das kostet Geld – uns alle.
Wir brauchen qualitativ hochwertige und gleichzeitig niedrigschwellige Bildungspakete, die für wirkliche Teilhabe sorgen und unbedingt mehr Chancengerechtigkeit ermöglichen. Was sind wir bereit dafür zu bezahlen?