Kinderrechte ohne Reichweite

von | 21. November 2022

Die UN-Kinderrechtskonvention legt fest, dass Kinder vor Folter, Kinderarbeit und Todesstrafe zu schützen sind, dass sie ein Recht auf Identität und Herkunft haben, dass ihre Ehre und ihr Wohlergehen zu schützen sind und dass die Vertragsstaaten Kinder vor körperlicher und sexueller Gewalt schützen müssen.

Keines der vier Grundprinzipien der Kinderrechte ist gewährleistet, nicht einmal in Deutschland. Weder das Recht auf Nichtdiskriminierung, das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung, die Einhaltung der Kindesinteressen noch das Recht auf Partizipation, also Teilhabe.

Allein das Recht auf Partizipation würde unser gesamtes Denken und Leben mit Kindern verändern, wenn jeder Erwachsene sowie alle Kitas und Schulen es ernst nehmen und entsprechend umsetzen würden. Teilhabe und Selbstbestimmung bedeutet nämlich sehr viel mehr als die Frage: Willst du den roten oder den blauen Pullover anziehen? Wird das Recht auf Partizipation gelebt, haben Kinder nicht nur auf dem geduldigen Papier das Recht, gehört zu werden und bei allen Belangen, die sie betreffen, mitzuentscheiden. Sondern sie haben tatsächlich die Möglichkeit, dies auch zu tun!

Das ist natürlich harte Kost für all jene, die davon ausgehen, dass Zähne täglich und pünktlich um 18.53 Uhr geputzt werden müssen, und die, wenn ein Kind, das in genau diesem Moment nicht möchte, die Zahnputz-Aktion auch gegen den Willen des Kindes, eventuell sogar unter Einsatz von psychischer und physischer Gewalt, durchsetzen.

Stellen Sie sich vor, es kommt eine vertraute Person auf Sie zu und bittet Sie, etwas in den Mund zu nehmen, das sie nicht möchten. Sie lehnen ab. Daraufhin wird das Bitten zu einem Drängen, dann zu einem Fordern und schlussendlich zu einem körperlichen Übergriff. Wie würden Sie es bei einem Erwachsenen nennen, wenn man einen Gegenstand gegen den Willen des Betreffenden in eine Körperöffnung einführt … ?

Natürlich, Kinder müssen Zähne putzen, sie tun es meist auch, nur eben nicht genau dann, wenn die Erwachsenen es anordnen. Und genau das IST ihr Recht auf Teilhabe und Mitbestimmung!

Deutschland ratifizierte die UN-Kinderrechtskonvention im Jahre 1992. Von emotionaler und psychischer Gewalt ist darin jedoch immer noch nicht die Rede. Die UN-Kinderrechtskonvention hat weltweiten Geltungsanspruch, also auch in jenen Ländern, die von Krieg und Armut betroffen sind, oder in Gesellschaften, in denen der Umgang mit Kindern häufig noch ein körperlich gewaltvoller ist. Und wenn man weltweit scheinbar nicht einmal den Einsatz von körperlicher Gewalt und Ausbeutung ausrotten kann, wie soll man da auf etwas so Ungreifbares wie emotionale Gewalt eingehen oder gegen diese angehen? Gerade deshalb ist es wünschenswert und dringlich, dass in Zukunft auch der Schutz vor emotionaler und psychischer Gewalt in die UN-Kinderrechtskonvention aufgenommen wird, um Kinder weltweit so gut wie möglich vor den Folgen von Gewalt in jeder Form zu schützen.

In Deutschland sind Kinder seit dem Jahr 2000 per Gesetz vor körperlicher Gewalt geschützt. §1631 Abs. 2 BGB sagt: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Das Recht auf gewaltfreie Erziehung schließt also den Schutz vor psychischer und emotionaler Gewalt explizit mit ein.

Und nun das große Aber: Noch im Sommer 2021 scheiterte wieder einmal ein Gesetzesentwurf der Großen Koalition, die Kinderrechte im Grundgesetz festzuschreiben, an mangelnder Einigkeit der involvierten Parteien! Eine mehr als erschütternde Bestandsaufnahme ausgerechnet während der Coronazeit, in der es für viele Kinder ohnehin nicht gut aussah. Und das, obwohl die Verankerung dieses Gesetzes im Koalitionsvertrag von Union und SPD ausdrücklich festgehalten wurde! Die Parteien warfen sich, wie in solchen Situationen üblich, gegenseitig mangelnden Einigungswillen vor.

Und dieses unschöne politische Hickhack geht – wieder einmal – zulasten der Kinder! Konkret ging es laut offiziellen Formulierungen um das Dreiecksverhältnis zwischen Eltern, Kind und Staat. Stärkt man nämlich die Eingriffsrechte des Staates, etwa beim Verdacht einer Kindeswohlgefährdung, um insgesamt mehr Kinder zu schützen, schwächt man auf der anderen Seite möglicherweise die Eltern. Es handelt sich um eine extrem schwierige und heikle Angelegenheit, trotzdem ist die Politik aufgerufen, rasch eine Lösung zu finden. Die vielen Missbrauchsfälle der letzten Jahre, bei denen schon im Vorfeld auch das Jugendamt involviert war, zeigen deutlich, dass wir eine sehr viel konsequentere Anwendung der bereits existierenden Regelungen brauchen, um Kinder noch besser zu schützen und wir brauchen die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz, weil sich dann Eltern viel stärker für Ihre Kinder einsetzen können und nicht der Staat gegen Eltern. Wir müssen das unbedingt und möglichst zeitnah schaffen, um endlich neue Maßstäbe zu etablieren, eine Alternative ist einfach nicht länger vorstellbar.

Auch wenn sich viele Menschen dagegen wehren, Gesetze verändern bekanntlich den gesellschaftlichen Diskurs. Das konnte man ausgezeichnet bei der gesetzlichen Anschnallpflicht erkennen oder dem Rauchverbot in Innenräumen. Durch Gesetze ändert sich die Art und Weise, wie wir Dinge betrachten und was wir als normal und tolerierbar einordnen. In diesem Sinne würden auch Kinderrechte als Teil des Grundgesetzes, deren Bedeutung viel mehr in das öffentliche Bewusstsein rücken und allein durch diese Tatsache dem Schutz von Kindern ein wesentlich größeres Gewicht verleihen!

Kinderrechte als neuer Maßstab – Umdenken dringend erforderlich

Tatsächlich zeigen Erhebungen nach der Einführung des Verbots der Körperstrafe im Jahr 2000, dass, ausgelöst durch das offizielle Verbot, in den Köpfen der Eltern seitdem ein gewisses Umdenken stattgefunden hat. Leider kursiert aber auch noch immer die Überzeugung, dass ein Klaps gelegentlich nicht schadet, doch diese Meinung nimmt, wie eine Untersuchung von Jörg M. Fegert zeigt, immerhin stetig ab, was eine sehr positive Entwicklung ist. Die meisten Eltern möchten ihre Kinder heute ohne Schläge erziehen, körperliche Gewalt als Erziehungsmittel wird daher zunehmend gesellschaftlich nicht mehr toleriert.

ABER, ich kann es Ihnen und mir bedauerlicherweise auch an dieser Stelle nicht ersparen – psychische Gewalt ist sehr viel schwerer festzustellen oder gar zu beweisen als körperliche, da sie keine äußerlichen Spuren hinterlässt. Sie ist zudem noch „en vogue“, weil sie heute den ‚ganz normalen‘ und breitflächig tolerierten erzieherischen Umgang mit Kindern repräsentiert. Entsprechend strengere Gesetze, einhergehend mit detaillierter Information der Bevölkerung, könnten ein Umdenken anstoßen. Doch die Veränderung im Denken und Handeln ist immer eine individuelle, die Forschung kann Ursachen finden und Folgen aufzeigen, Verhalten verändern kann nur jeder selbst.

Ich bin überzeugt, dass es beim dringend erforderlichen Umdenken wie bei der daraus resultierenden Veränderung in Richtung einer erhöhten Gewaltbewusstheit durch Eltern und Pädagogen hauptsächlich um das Thema biografische Selbstreflexion geht. Als Gesellschaft und vor allem auch als Individuen können, ja müssen, wir uns dafür entscheiden, Kinder nicht mehr durch seelische Gewalt zu erziehen und analog zu körperlicher Gewalt auch eine Form von sozialer Verantwortung zu verankern. Etwa, wenn wir erkennen, dass jemand in unserer Umgebung seelische Gewalt anwendet. Und in einem solchen Fall sollten wir alle unbedingt und jederzeit die „Täter*innen“ darauf aufmerksam machen, was diese Art der Ansprache bei Kindern auslöst, wie diese sich fühlen und warum es keineswegs in Ordnung ist, so zu handeln. Genau so, wie wir heute hoffentlich auch handeln würden, wenn wir beobachten, dass jemand sein Kind schlägt. Nur wenn so viele Menschen wie möglich agieren und einschreiten, kann eine grundsätzliche Sensibilisierung für das Thema stattfinden und damit einhergehend auch eine Veränderung im Denken und Handeln.

Seelische Gewalt ist nicht tolerierbar – nirgendwo und niemals! Das muss allerorten und für alle Menschen das neue Credo und der neue Maßstab werden – zu Hause, in der Kita, in der Schule!

Die Sache mit der Selbsterkenntnis

Machen wir uns nichts vor: Kein Gesetz und kein Kinderrecht wird diese Tatsache jemals ändern – das Zusammenleben mit Kindern ist anstrengend. Reizbarkeit und unbeherrschte Reaktionen auf das Verhalten eines Kindes sind zutiefst menschlich und kein Grund, in tiefen Schamgefühlen zu versinken. Trotzdem finde ich es auch essenziell, dass Eltern sich aufgrund ihres eigenen ungeduldigen oder zornigen Verhaltens gegenüber ihren Kindern schuldig fühlen, ja, Sie lesen richtig – fühlen Sie sich schuldig. Und dann ENTschuldigen Sie sich, dann lernen Kinder gleich, dass sie es wert sind, dass sie Würde haben und vor allem, wie Entschuldigen geht!

Eine ernst gemeinte ENTschuldigung gibt Kindern wieder die Würde zurück, auf die sie laut Gesetz ein Anrecht haben, und genau das ist der Maßstab, der für alle Kinder gelten sollte!