Seelenprügel allüberall – Muss das wirklich sein?

von | 27. Februar 2020

Vor kurzem habe ich einen Blogbeitrag von Herbert Renz Polster gelesen – wie immer brillant geschrieben und absolut lesenswert! Lesenswert, wenn auch dramatisch. Denn in diesem Text geht es darum, dass der Therapeut D. Lange, bekannt aus dem Film “Elternschule“, in einer Publikation für Hebammen einen Beitrag über die seiner Meinung nach zeitlich richtig getaktete Fütterung von Babys veröffentlicht hat. Herbert Renz-Polster findet diese Vorgangsweise – diplomatisch formuliert – mehr als seltsam*. Ich stimme diesen Aussagen meines geschätzten Kollegen vollinhaltlich zu. Denn Lange, ein in meinen Augen unsäglich grausam denkender Mensch, empfiehlt für Babys Fütterungen strikt nach der Uhr. Das heißt, um zum Beispiel Punkt 17 Uhr wird gefüttert, egal ob ein Baby sich die Seele aus dem Leib brüllt oder nicht. Liegen- und schreien lassen ist Langes Devise, damit Babys möglichst rasch lernen, sich selbst zu beruhigen. Für mich stellt das eine unglaubliche und auch völlig falsche Empfehlung dar, denn wir leben schließlich im 21. Jahrhundert, haben jede Menge aktuelle Erkenntnisse über Gehirnreifung, Bindung und Bedürfnisorientierung – und dann DAS? Es scheint dem Autor Lange nicht klar zu sein, dass eine solche Missachtung der frühkindlichen Bedürfnisse, dass dieses Ignorieren eines kleinen Menschen in Not die härteste Art von Seelenprügel darstellt. Seelenprügel – wirklich allüberall?

Eine tatsächlich seelengeprügelte und seelenprügelnde Gesellschaft?

Über die Zustände in noch immer viel zu vielen Krippen und Kindergärten habe ich mit „Seelenprügel“ ein Buch geschrieben, das aufrütteln sollte und dieses Ziel auch schon erreicht hat. Jedoch, in so mancher Schule geht es für viele Kinder mindestens so grausam zu wie in vielen Kitas. Auch dort werden Kinder vom Lehrpersonal oft bloßgestellt, gedemütigt und vernachlässigt. Gar nicht zu reden von den Vorkommnissen in vielen Familien, in denen sich Erwachsene gegenüber Kindern eines zu harten Tons befleißigen, sie mit Strafsanktionen bedrohen oder sie ganz ignorieren.

Das betrifft im familiären Verbund jedoch nicht nur Kinder. Neue Zahlen belegen es: Mehr als einmal pro Stunde werden Menschen in Partnerschaften körperverletzt, psychisch ganz sicher noch viel häufiger, aber da diese Seelenprügel eben keine sichtbaren Wunden und Narben hinterlassen, bleiben seelische Verletzungen dieser Art der Welt verborgen. Ich wage auch zu behaupten, dass aktive Seelenprügel ebenso zum Alltag in vielen Unternehmen gehören, in denen Vorgesetzten und Kollegen untereinander oft nicht klar ist, welche heftigen Worte in Form von schmerzhaften Pfeilen sie aufeinander loslassen. Und weiter geht es leider auch in den sozialen Netzwerken. Der Ton dort ist oft rau, sogar hetzerisch und wer schon einmal einen Shitstorm verbaler Natur erlebt hat, weiß für immer, wie Seelenprügel sich anfühlen. Mir kommt vor, dass die generelle Stimmung allerorten dauerangespannt ist – und man muss nur Nachrichten schauen, um zu sehen, wie hart und herzlos es in vielen Köpfen und Ländern zugeht. Muss das wirklich sein?

Schluss mit Seelenprügeln – es liegt an uns

Das kann endlos auf diese Weise weitergehen, es kann auch noch viel schlimmer werden, oder dieses Seelenprügel-Pendel könnte auch in die andere Richtung ausschlagen – es liegt an uns! Ja, an uns als Gesellschaft. Wir – jeder einzelne von uns – haben zwar vielleicht nicht alles, aber doch genug in der Hand, um eine Veränderung dieses seelenprügelnden Kommunikationskomas herbeizuführen.

Wir können es uns natürlich auch einfach machen und die Verantwortung an die „Systeme“ abgeben, wie an die Erziehungs-, Bildungs- und sonstigen Systeme. Aber, wollen wir das wirklich? Jeder von uns hat die Macht, Veränderungen anzustoßen, sei es nun als ErzieherIn, LehrerIn, Vorgesetzte und KollegIn, oder als Mensch in der Partnerschaft, als Vater, Mutter, als Großeltern. Wir können jederzeit anders denken, anders handeln und vor allem es anders vorleben. Das zeigen all jene, die es bereits praktizieren, die nicht so weitermachen wollten wie bisher und die nach neuen, anderen Wegen und Lebensweisen – frei von auch nur dem geringsten Ansatz von Seelenprügeln – suchten und diese fanden.

Wir sind schließlich keine ferngesteuerten Marionetten, wir können unser Denken und Handeln jederzeit ändern. Und es wird sich vieles verändern, wenn wir erst beginnen, uns die richtigen Fragen zu stellen und über die möglichen Antworten in eine intensive Reflexion zu gehen. Reflexion ist stets der Anfang tatsächlicher Veränderung, und wir alle können mit Nachdenken und Umdenken uns und die Welt in vielen Situationen beeinflussen. Vor allem im Bereich des Reduzierens von Seelenprügeln! Es ist im Grunde so einfach, bewussteres Kommunizieren, ein gewisses Innehalten vor dem Aussprechen prügelnder Worte. Es kann so einfach sein. Wenn wir als Gesellschaft es wirklich wollen, könnte die Aussage „Seelenprügel allüberall?“ bald keine Gültigkeit mehr haben. Machen Sie mit?