Das fast ungekürzte erste Kapitel aus dem
FAULTIER-PRINZIP
Wettspringen der Affenbabys – Wer lernt schneller?
Frieda, die Faultierdame aus Bolivien, die mehr über uns Menschen erfahren will und die inzwischen jeder kennt, der mich kennt, hat es sich in der Kastanie vor meinem Bürohaus bequem gemacht. Sie hängt ganz nach Faultierart, kopfüber an dem Ast, der dem Fenster vor meinem Schreibtisch nächsten ist. Sie lehnt ihren Kopf an den Fensterrahmen, blickt mich erwartungsvoll an, klimpert mit den Wimpern und sagt motiviert: „Ich möchte alles über euch Menschen wissen, von Anfang an. Wie lange seid ihr Menschen trächtig? Und wie lebt ihr mit euren Babys?“
Das ist eine gute Frage, die mich jedoch ein wenig ins gedankliche Stolpern bringt. Ich beginne zu überlegen, was eigentlich der Anfang von uns Menschen ist. War es der Urknall? Die Befruchtung, die Geburt? Über den Urknall weiß Frieda wahrscheinlich mehr als ich, denn der Ursprung von Faultieren ist viel näher am Urknall angesiedelt als jener der Menschheit. Aber sie weiß sicher nichts über die Sorgen, die sich eine werdende Mutter lange vor der Geburt macht und welchen gedanklichen Torturen manche Frauen sich in dem Zusammenhang aussetzen. Ich hole tief Luft und versuche, das faultiergerecht zu erläutern. „Weißt du Frieda, die meisten Frauen planen genau, wann sie schwanger werden möchten und hoffen, dass es zum Wunschzeitpunkt klappt, denn für eine menschliche Geburt muss enorm viel organisiert werden. Und uns Menschen ist nun einmal Sicherheit in jeder Hinsicht, vor allem partnerschaftliche, finanzielle und berufliche Sicherheit, sehr wichtig. Deswegen sind im Vorfeld des Eintreffens eines Kindes, so heißen unsere ‚Jungen’, wie du ja schon weißt, zahlreiche Dinge zu bedenken und zu beachten.“ Frieda legt das Köpfchen schief und lauscht mit großen Augen. Wenn ich die Faultier-Körpersprache richtig deute, scheint sie ziemlich überrascht zu sein. „Und, liebe Frieda“, setze ich fort, „meine Beobachtung ist, diese intensiven Gedankenkarusselle beginnen lange vor der Schwangerschaft. Weil bei uns Menschen geht es immer um die optimalen Startchancen und darum, von Anfang an nur ja keinen Fehler zu machen. Deswegen befinden sich viele angehende Eltern schon vor der Geburt in einem Zustand höchster Nervosität.“ Frieda zieht das letzte verwelkte Kastanienblatt zu sich und beschnüffelt es neugierig. „Klingt schrecklich anstrengend, da werde ich ja schon müde beim Zuhören“, meint sie dann gähnend. „Du hast mir erzählt, dass es da so ein Wort gibt mit S, ja, Stress war das wohl, also das klingt mir sehr nach diesem Stress. Den spüren doch sicher auch die Babys im Mutterleib, wenn da vorher schon so viel abgeht?“ fragt sie dann mit großen Augen. Dieses Faultier wird mir immer unheimlicher. Mit punktgenauer Präzision hat es erkannt, was alles im Vorfeld von Geburten zum Stressfaktor werden kann.
Der Druck einer tickenden Uhr
Dazu fällt mir ein Gespräch ein, das ich mit meiner Bekannten Michaela geführt habe. Nach mehrjähriger Behandlung in einem Kinderwunschzentrum ist Michaela nun endlich wieder schwanger. Sie wünscht sich so sehr ein Kind, dass sie jede noch so unangenehme, schmerzhafte und teure Behandlung über sich ergehen ließ. Unzählige Arztbesuche, Hormonspritzen mit den dazugehörigen emotionalen Achterbahnen inklusive Fünferlooping, exakt nach dem Eisprung terminierte Akte, ohne die Freuden eines Loopings, eine fast desinfizierend gesunde Lebensweise, schlaue Sprüche von anderen, handgeschüttelte Globuli, Entspannungs-Seminare inklusive medialer Reisen zum Krafttier – nichts von all dem konnte Michaela vor drei Fehlgeburten, dem großen Schmerz noch immer kein Kind zu haben und dem Gefühl, als Frau zu versagen, bewahren. Michaela ist jetzt 47 Jahre alt, die berühmte Uhr tickt ohrenbetäubend ihre biologisch vermutlich letzten Takte.
Nun, da sie endlich, endlich wieder schwanger ist und hoffentlich auch bleibt, muss alles perfekt sein. Was allerdings schon flink auf unzähligen Beinen laufen kann, ist die Angst. Sie begleitet Michaela seit dem Beginn ihrer neuen Schwangerschaft zuverlässig auf Schritt und Tritt. Die Angst, wieder eine Fehlgeburt zu haben, die Angst, kein gesundes Kind zu gebären, die Angst, dass wieder etwas schiefgehen könnte. Und vor allem die Angst, keine gute Mutter zu sein. Ich verstehe diese Ängste sehr gut, ich hätte sie in dieser Situation vermutlich ebenso. Die Schwangerschaft, wird so jedoch zur angstvollen Zitterpartie und hat mit Gelassenheit und freudiger Erwartung nicht mehr das Geringste zu tun. Im Falle von Michaela muss man nicht hellsehen können, um sich ein Bild davon zu machen, wie es weitergehen wird – ihr ganzes Leben dreht sich seit Jahren um das „Projekt“ Kind. Und so sehr ich ihr wünsche, dass sie in ein paar Monaten ein gesundes Baby in den Armen halten kann, so sehr befürchte ich auch, dass dieses Kind seiner Mutter Michaela viele Wünsche erfüllen muss. Michaela wird mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Art Affenliebe verfallen und alles tun für ihr Kind! Und sie wird – so steht zu befürchten – auch alles bestimmen wollen, was ihrem Kind guttut und wie dessen Zukunft auszusehen hat. Michaela wird keine gelassene und vertrauensvolle Mutter sein, von dieser Tatsache können wir ausgehen.
Affenliebe – Fluch oder Segen?
Sarah Blaffer-Hrydy, eine amerikanische Verhaltensforscherin, beschreibt mit der sogenannten Affenliebe eine Bezeichnung, die für diejenigen Mütter verwendet wird, die ausnahmslos alles für ihre Kinder tun. Ursprünglich kommt der Begriff daher, dass Affenmütter, die in eine Konkurrenzsituation zu anderen Affenmüttern geraten, deren Babys töten, um ihr eigenes Junges zu schützen. Sie tun das nicht aus Lust am Töten oder aus Hunger, sie tun es aus purer Angst, dass ihr Baby nicht überlebt. Angst und (Affen-)Liebe – ein scheinbar untrennbares Paar, nicht nur im Affenleben!
„Mit Affen kenne ich mich sehr gut aus!“ Frieda, die scheinbar auch Gedanken lesen kann, steckt an dieser Stelle meiner Überlegung ihren Kopf zum Fenster herein und erzählt, dass sie die Affenbabys im Dschungel immer beobachtet und es seltsam findet, wenn die sich mit einem Affenzahn durch die Bäume hangeln und um die Baumstämme tanzen. „Stell dir vor, schon die ganz kleinen Affen probieren aus, wer am besten und schnellsten klettern und rennen kann. Sie schreien und toben durch den Regenwald, wie es nur nervtötende Affenbabys können“, berichtet sie empört. Eindeutig ist ihr diese Affenbande viel zu schnell und schrill unterwegs. „Es gibt sogar ein Lied über unsere Affen, das singen eure Menschenkinder – es heißt: ‚Die Affen rasen durch den Wald. „Kennst du das vielleicht“, fragt sie gespannt?
Natürlich kenne ich es, ich habe ja einige Jahre im Kindergarten gearbeitet. In dem Lied geht es um die verzweifelte Suche einer Affenbande nach einer Kokosnuss, die von einem Affenbaby geklaut wurde. Die rasen durch den Regenwald und machen sich im Zuge dieser wilden Jagd gegenseitig kalt. Es ist nur ein Kinderlied, enthält jedoch einen Kern Wahrheit, denn bei Menschen- wie bei Affenkindern verhält es sich ähnlich. Nur, dass die Menschenkinder nicht von sich aus zu konkurrieren beginnen, sondern deren Eltern es für sie tun und ihnen dieses Verhalten vorleben. Kinder schauen sich Verhalten nun einmal ab, sie lernen laut dem Psychologen Albert Bandura durch Nachahmung, also „am Modell“. Nicht umsonst gibt es Bücher mit Titeln wie „Die Mütter-Mafia“. Glauben Sie bitte nicht, dass es hier um Mütter-Bashing gehen soll. Ganz und gar nicht. Diese Erkenntnisse entsprechen meinen in langen Jahren im Erziehungsbereich gemachten Erfahrungen und auch der geschilderten Realität anderer Experten, wie sehr das Erwecken eines ungesunden Wettbewerbs das Verhalten von Kindern negativ beeinflussen kann.
Der Bildungserfolg beginnt mit der Geburt – wirklich?
Damit Frieda besser versteht, worum es bei uns Menschen schon in den ersten Lebensmonaten gehen kann, erzähle ich ihr von einem Gespräch zweier Frauen, das ich erst gestern verfolgt habe, als ich in meiner Lieblingseisdiele genüsslich einen großen Amarenabecher verspeiste. Eine der beiden hatte einen Kinderwagen dabei. „Oh, was für ein süßes Baby, wie alt ist sie denn?“, fragte die ältere der beiden Damen. „ER ist neun Monate“, antwortet ihre jüngere, rothaarige Gesprächspartnerin. „Aha, er. Ach, es geht so schnell vorbei, dieses schöne Alter. Mein erster Sohn Lukas geht inzwischen auf die Uni, aber ich erinnere mich so gerne an seine Babyzeit. Er war ja schon immer in allem so geschickt“, kam die flötende Antwort der blonden älteren Dame. „Wie war denn die Geburt, hast du natürlich entbunden?“ „Das wollte ich eigentlich“, antwortet die Rothaarige mit Bedauern in der Stimme, „aber dann habe ich es mir doch überlegt und um eine PDA gebeten.“ Die blonde Dame nickte milde lächelnd. „Das muss natürlich jeder selbst entscheiden. Ich habe damals darauf verzichtet. Kann er denn schon krabbeln?“, setzt sie neugierig nach. „Noch nicht ganz, Theo zieht sich eher vorwärts“, gibt die junge Mutter zu. Ihr Gegenüber lächelt mit einem Hauch von Mitleid. „Mach dir keine Gedanken, er wird krabbeln, wenn er bereit dafür ist, und lass dir ja von niemandem einreden, dass er Legasthenie bekommen könnte!“ Die jüngere Mutter wird ein wenig blass. Aber ihre „wohlmeinende“ Freundin fragt schon weiter: „Kann er die Babyzeichensprache?“ Verwirrung bei der jungen Mutter. „Nein, äh, noch nicht, ich meine, ich habe davon gehört, hatte aber noch keine Zeit, mich näher damit zu beschäftigen“, stammelt die mehr und mehr gestresste Mama. Das Lächeln der anderen wirkt noch mitleidiger als zuvor: „Das kann ich verstehen, du hast ja sicher so viel zu tun. Lass dir ja von niemandem sagen, dass du nachlässig bist.“ Die Rothaarige stammelt: „Ah, okay, ich, also ich meine, ich vernachlässige mein Kind natürlich nicht.“ Die blonde Dame strahlt gütig in die Gegend. „Gut, gut, denn wir Mütter müssen schließlich zusammenhalten! Kann er schon frei sitzen?“ „Äh, nein, also nur ein bisschen, dann fällt Theo wieder um“, muss die jüngere Mutter zugeben. „Ach wie süß, aber das macht nichts. Lass dir nur auf keinen Fall einreden, dass er eine Muskelschwäche hat. Dafür kann er sicher schon ein bisschen sprechen, oder?“ „Na ja, er sagt Mamamama und Babababa.“ „Oh, wie reizend – das ist schon OK für dieses Alter! Lass dir nur bitte niemals sagen, dass dein Sohn besser sprechen würde, wenn du ihm mehr vorlesen würdest.“ Nun wähnt sich Theos Mama auf sicherem Terrain: „Aber nein, denn ich lese ihm täglich ein Buch vor.“ Erstaunt hochgezogene Augenbrauen der älteren Frau. “Nur eins pro Tag? Sag mal, wie lange willst du eigentlich noch stillen?“, setzt die Super-Mutter mit dem Sohn an der Universität nach. „Ich weiß noch nicht, bis mir die Brüste abfallen vielleicht“, zeigt Theos Mama das erste Mal etwas Kampfgeist in diesem Mütterspiel. „Sehr witzig, aber im Ernst, hast du ihn schon in ein paar guten Krippen angemeldet?“ „Ist das nicht ein wenig früh, er soll erst mit drei Jahren in den Kindergarten gehen.“ „Ja klar, lass ihm nur alle Zeit der Welt, das machst du toll. Nur, es könnte sein, dass er den Anschluss verpasst, denn die meisten Kinder gehen in Krippen und da lernen sie schon alles, was sie für den Kindergarten brauchen. Er wird das alles natürlich nicht lernen können, aber er kann es ja nachholen. Natürlich kommt es besonders auf die ersten drei Jahren an, wenn das Gehirn am meisten lernt. Der Bildungserfolg beginnt einfach schon mit der Geburt, aber das muss jeder selbst entscheiden.“ Nach dieser letzten Lawine guter Ratschläge verabschiedet sich Theos Mutter erschöpft und rollt den Kinderwagen aus der Eisdiele.
Frieda sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Warum unterstützt die ältere die jüngere nicht?“, fragt sie ungläubig. Ich seufze. Wie soll ich einem Faultier den schon mit der Geburt beginnenden Wettbewerb mancher Mütter erklären? Dieses Gespräch ist das Paradebeispiel einer Mutter, die alles perfekt machen wollte, während der Kindheit ihrer eigenen Kinder von Angst getrieben durch die Welt rannte und diese Angst nun allen jungen Müttern, derer sie habhaft werden kann, weitergibt. Denn Theos Mama, die gerade noch wunderbar gelassen war, wird ihren Sohn nach diesem Gespräch sicher in mindestens einer Krabbelgruppe anmelden, ihm drei Bücher pro Tag vorlesen und sofort mit der Babyzeichensprache beginnen.
Früh laufen und sprechen – Bildungsstress von Anfang an
„Siehst du, Frieda“, doziere ich, „selbstgemachten Stress gibt es bei uns Menschen vor der Geburt, um die Geburt herum, und nach der Geburt geht der Spaß erst richtig los! Alles soll perfekt laufen! Und es geht von Anfang an um Lernen und Bildung, frühes Sprechen und wie gut jemand schon was kann.“ Frieda schüttelt den Kopf und sagt dann: „Faultiermütter hängen einfach auf dem Ast, ihre Jungen auf dem Bauch oder Rücken. Die müssen gar nichts tun, nur SEIN.“ Ich seufze neidisch.
Angst und Perfektion sind Themen, die einem Faultier so fremd sind, wie mir das Fortpflanzungsverhalten der purpurnen Tiefseeschnecke. Das perfekte Kind nach einer perfekten Schwangerschaft gehört in unserer zivilisierten Welt jedoch für viele dazu. Wer Mutter werden will, muss natürlich eine perfekte Mutter sein – eine von inniger Liebe durchtränkte und aufopferungsfreudige eierlegende Wollmilchsau – die perfekte deutsche Mutter, einst entstanden in Hitlers wahnsinnigem Kopf und in den Hirnen seines willigen Gefolges. Heute noch immer gepflegt und gehegt in konservativen Kreisen und neu entdeckt in der multipel privilegierten Gesellschaft, die dank Nannies & Co kein Problem alleine lösen muss.
Unter diesem vergleichenden Mutter- und Hausfrauenideal mit seinem Perfektionismusanspruch, beladen mit Schuld- und Sühnegedanken, wenn die Vorhänge nicht blütenweiß sind, die Jogginghose auch fünf Monate nach der Geburt noch bequemer ist als die knackige Jeans und das Baby noch immer nicht durchschläft, leiden auch noch heute viel zu viele Frauen. Und wenn die Mütter leiden, ist es auch für die Väter, sofern vorhanden, kein Vergnügen – sie leiden mit. Für Männer ist der Anspruch nicht weniger gering, sie können sich der Verantwortung nur einfacher entziehen. Männer, besonders Väter, sollen weich und stark, cool und sanftmütig sein, sich mit Kindern auskennen, gerne und gerne viel Zeit mit dem Kind verbringen, sich natürlich auch Elternzeit nehmen, ihre Frau unterstützen, Geld verdienen, und bitteschön ein liebender, geduldiger und sexy Partner sein. An diesem Punkt meiner Überlegungen zirpt Frieda dazwischen: „Sexy, was ist das?“ (…)
Eigeninitiav lernen – von Töpfchen bis Laufen
Noch vor zwei Generationen herrschte die Meinung vor, Eltern müssten sich mächtig ins Zeug legen, damit die Kinder Laufen und zur Toilette gehen lernen. Heute wissen wir: All das hat nichts gebracht. Diese Erkenntnis verdanken wir dem Schweizer Kinderarzt Remo Largo. Er und seine Kollegen befragten Eltern fast 50 Jahre lang systematisch, wann mit der Sauberkeitserziehung begonnen wurde und wann die Kinder dann tatsächlich sauber waren. Und siehe da: Obwohl die Eltern im Verlauf der Befragung immer später mit der Sauberkeitserziehung begannen, unterschied sich der Zeitpunkt, zu dem die Kinder schließlich sauber waren, nicht nennenswert. Eigentlich sind Menschenbabys sogar von Natur aus vorbereitet, im Rahmen einer sehr engen Beziehung und Kommunikation mit ihrer Bindungsperson schon ganz früh ihre Ausscheidungen anzukündigen, für Sekunden zu halten und sich dann zu lösen. In vielen traditionellen Kulturen sind Babys, die sich immer ganz nah bei ihren Eltern befinden, etwa mit sechs bis zwölf Monaten auf diese Art »sauber«. Könnten und wollten sich Eltern 100-prozentig auf ihre Babys konzentrieren, würde es weitaus mehr Babys ohne Windeln geben. Allerdings ist das in unserer schnellen Welt kaum möglich.
Der ganze Stress war und ist jedenfalls für die Katz, denn es gibt kein funktionierendes Sauberkeitstraining, genauso wenig wie es ein wirksames Lauf- und Sprechtraining oder gar ein frühes Training sozialer Kompetenz gibt. Wie in anderen Bereichen des kindlichen Wachsens und Gedeihens stellen sich diese Entwicklungen genau dann ein, wenn ein Kind im Rahmen und im Schutz seiner Beziehungen eigeninitiativ lernen darf. Manche Kinder machen ihren ersten Schritt mit acht, andere mit 20 Monaten – sie laufen genau dann, wenn ihre Zeit gekommen ist. Kluge Eltern wissen das und vertrauen auf die natürliche Entwicklung. Aber die Angst, etwas zu versäumen, überwiegt aus Unwissenheit leider viel zu oft.
Wettspringen der Affenbabys – nur ja keine Chance verpassen
Ich wende mich bewusst wieder an Frieda, die kurz vor dem Einschlafen scheint und regungslos in der Kastanie baumelt. „Ach Frieda, es geht noch schlimmer! Weißt du, mit dem ganzen Baby-Wahnsinn kann man viel Geld verdienen und niemand gibt bereitwilliger viel Geld für bunten Schwachsinn aus als Eltern, die verzweifelt versuchen, alles richtig zu machen und nur ja keine Chance zu verpassen.“ Frieda öffnet ein verschlafenes Auge und murmelt: „Wie funktioniert dieser Wahnsinn?“
Der Baby-Wahnsinn kennt kommerziell gesehen keine Grenzen. Es gibt Video-Baby-Lern-Programme, in denen Babys ab ihrem ersten Lebenstag bunte Enten zählen sollen, die durchs Fernsehbild schwimmen. Man stelle sich vor: Sie können noch nicht einmal klar und deutlich sehen, weil ihre Sehnerven noch unreif sind, aber sie sollen bereits mit Zahlen jonglieren und noch dazu über 75 Zeichen der Baby-Zeichen-Sprache lernen. Außerdem gibt es Krabbelgruppen für Hochbegabte, Babyyoga, Babyschwimmen, ja sogar Englischkurse für Babys mit einem Lehrplan, der über 700 Vokabeln im ersten Jahr verspricht! Ich habe mich erkundigt, es wird empfohlen, den Babys täglich die Übungseinheiten vorzuspielen und die Unterrichtseinheiten regelmäßig mit ihnen zu üben. Ja, das gibt es, Hausaufgaben für Babys! Und ich habe noch ein bisschen mehr Wahnsinn im Angebot. Denn es gibt neben Baby-Massage-Kursen, Mama-Baby-Tanz, Baby-Bauchtanz, jede Menge „pädagogischer“ Baby-Trainings-Kurse, und seit einiger Zeit kommen auch die Väter nicht mehr zu kurz, denn es existieren neuerdings auch – unserem Vater im Himmel sei Dank – Väter-Baby-Kurse, fast wären die Männer bei all dem Stress vergessen worden.
Alle diese Kurse sollen natürlich vorzugsweise im ersten Jahr besucht werden, sonst könnte „man“ ja etwas in der Entwicklung verpassen, könnten die Kinder einen wichtigen Schritt, der ihnen die große Karriere und das große Glück bringt, versäumen. Ich betone, dieses explizite „Lernangebot“ bezieht sich auf Babys, die noch nicht einmal ein Jahr alt sind. Erkennen Sie, welcher Wahnsinn mit System dahintersteckt? Diese Angebote würde es jedoch nicht geben, wenn unsichere oder auch überambitionierte Eltern darauf nicht aufspringen würden, um ihren Kindern möglichst früh ALLES zu ermöglichen.
Bei all dieser Raserei unter dem Deckmantel der frühen Förderung aus Affenliebe, vergessen wir leider viel zu oft – zwischen Geburt und Tod liegt ein ganzes Leben mit seinen eigenen Gesetzen und Chancen, all seiner Schönheit, seiner Fülle, seinen Gefahren und Herausforderungen. Warum in aller Welt hetzen wir durch, bzw. lassen wir uns durchhetzen, treiben pausenlos unsere Kinder und uns selbst an und dabei nicht selten in den Wahnsinn? Warum machen wir es nicht ein bisschen mehr wie Frieda und legen uns unter einen Baum, weil hängen für uns einfach viel zu anstrengend wäre und schauen den tanzenden Blättern zu?
Friedas Weisheiten:
Du lieber Mensch, weißt du eigentlich, dass du diesen ganzen Stress nicht brauchst und auch dein Kind braucht das nicht. Warum zeigst du deinem Kind nicht, wie schön eure Welt ist? Schau einfach, wohin dein Kind schaut, dort liegt das, was es zu lernen gibt, dein Kind kennt den Weg – folge seiner Neugier, denn es entdeckt die Welt neu und du hast die Chance, das zusammen mit deinem Kind zu erleben. Es gibt viel zu lernen über das Leben und die Zeit. Ich lerne so gerne, deswegen habe ich den Dschungel verlassen. Lernst du eigentlich auch gerne und so richtig mit Spaß, hast du darüber schon einmal nachgedacht?
(…)
Und wenn Sie liebe Leser*innen mehr von Frieda erfahren wollen, dann findet man Frieda hier: https://www.instagram.com/faultier.frieda/
und hier:
Ballmann, Anke Elisabeth (2022): Das Faultier-Prinzip. Wie Kinder in ihrem Lebenstempo gelassen und frei ihre Fähigkeiten entwickeln und die Welt für sich entdecken. Goldegg. Berlin/Wien.